Der einzelne Mensch ist ein Nichts

Diesen Text gibt es auch als Episode im Wurlitzer, dem Podcast des Sandwirts: Hier.

Der menschliche Kosmos #3

Bald acht Milliarden Menschen leben inzwischen auf der Erde. Bilder wie das eines Sandkorns in der Wüste oder eines Tropfens im Ozean sind schnell gezeichnet. Die Erfahrung von Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen ist seit dem 20. Jahrhundert allgegenwärtig, nicht nur in den Massenheeren und -morden. Oder haben Sie sich in der Arbeitswelt, gegenüber der bürokratischen Verwaltungsmaschinerie niemals ohnmächtig gefühlt? 

Aus der Zeitperspektive erscheint der Einzelne ebenso mikrobenhaft: Seine Lebensspanne ist winzig – gemessen an der Geschichte des Kosmos, ja selbst der Gattung. 

Das Leben hat ein Mittel gegen die quantitative, zahlenmäßige Bedeutungslosigkeit, gegen damit verbundene Ängste, gegen das Gefühl der Ohnmacht: Das Individuum kann in einem Metasystem, einem Sozialgebilde aufgehoben sein – zum Beispiel in einer Herde oder in einem Bienenstaat. Die Zugehörigkeit zu einem Metasystem hilft dem Einzelnen zu erlangen, wessen er bedarf und schützt ihn vor Verlusten. 

In sozialen Verbänden werden die Möglichkeiten der Individuen nicht einfach addiert, sondern innerhalb eines neuen Organismus vernetzt. Strategien entstehen, die über die individuellen weit hinaus reichen. Sie folgen dennoch nicht beliebigen Mustern, sondern den charakteristischen, genetisch und entwicklungsgeschichtlich angelegten, die nach innen und außen wechselwirken. Die Zugehörigkeit zum Sozialgebilde hat dabei ihren Preis: Der Einzelne muss mit den Bewegungsmustern des Metasystems zurechtkommen und Rollenzuweisungen hinnehmen – zum Beispiel die eines Untergebenen, Weisungsgebundenen, Subalternen. 

Der einzelne Mensch ist alles. 

Jede Geburt verändert die Welt. Sie ist unentbehrlicher Teil jenes Prozesses, der aus Möglichem Wirkliches werden lässt, und seit die Betrachtung komplexer dynamischer Systeme uns das Beispiel bescherte, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in der sibirischen Taiga über Beginn und Verlauf eines Hurrikans in Mittelamerika entscheiden kann, müssen wir die Bewegungen eines Individuums mit anderen Augen sehen. 

In seiner einzigartigen Erbinformation erscheint zugleich die gesamte Geschichte der Entwicklung eingefaltet, und bisweilen gewinnt das Handeln eines einzelnen Menschen überragende Dimension, wenn er  – unvorhersehbar – in die Rolle eines Diktators oder Attentäters hineinwächst. Oder in die eines Künstlers.

Handelnd und sich verändernd gestaltet der Einzelne sich selbst und seine Umgebung. Aus dem „Genotyp“ wächst der „Phänotyp“, dessen eigentümliches Sein das Sein der Welt notwendig mit definiert. Für den Einzelnen spricht nicht die Quantität, sondern die Qualität. Darauf komme ich in einem späteren Exkurs zurück.

Die Erschaffung des An-Gestell-ten

Der Markt vermittelt. Denn der Einzelne muss sich ernähren, wohnen, gesund erhalten. Der Markt bietet ihm, was er nicht selbst schaffen kann und verlangt etwas dafür: Geld, den großen Gleichmacher, das universelle Maß für jeden Gegenstand von der Kartoffel bis zum Kernkraftwerk und jede Leistung vom Schuhe putzen bis zur Herzoperation. 

Im Geld verschwindet jede Eigenart – es quantifiziert alles. Selbst Beziehungen zwischen Menschen kann es die Eigenart austreiben: Es bleiben käufliche Dienste übrig, bei denen egal ist, wer sie nutzt oder erbringt. Anderseits kann der Einzelne seine Existenz nicht auf Qualitäten aufbauen, die am Markt nicht gefragt sind. 

Wir landen bei dem bekannten Paradox, dass eine allein erziehende Mutter, mit Hingabe, Kreativität und Sachverstand im Haushalt tätig, liebevoll um das Heranwachsen ihrer Kinder bemüht, auf staatliche Fürsorge angewiesen ist und keinen Rentenanspruch erwirbt, dass ein leidenschaftsloser Pauker dagegen um Einkommen und Altersversorgung nicht bangen muss, ebenso wenig wie die für Schule und Sozialhilfe zuständigen Angestellten. Ihnen muss das Schicksal von Kindern allenfalls dann nicht mehr Wurst sein, wenn überforderte Mütter ihren Nachwuchs  krankenhausreif geprügelt haben oder dessen Heimeinweisung wegen unaufhaltsamer Neigung zur Kriminalität ansteht. Die Verantwortung hatte die Mutter; bezahlt wurden andere.

Angestellt zu sein ist in den entwickelten Industrieländern fast zur einzig möglichen Lebensform geworden. Es gilt als Katastrophe, seine Anstellung zu verlieren und „arbeitslos“ zu  werden. Das ist eine verräterische Ausdrucksweise, die „Arbeit“ mit „Anstellung“ gleichsetzt und  das Leben außerhalb der Anstellung abwertet − als ob man nicht auch als Selbständiger oder einfach als Hausfrau und Mutter vollwertig arbeiten könnte. 

Das System, Einkommen als Angestellter zu erwerben – nennen wir es mit Martin Heidegger, der dabei die Technik als strukturprägend ansieht, einfach „das Gestell“ – sichert großen Massen von Menschen die Existenz, es strukturiert fast allgegenwärtig die Arbeitswelt und fast jede Arbeitsorganisation setzt auf dem Gestell auf. 

Wer an-Gestell-t ist, muss Unwetter und Missernten kaum noch fürchten, auch nicht, dass er als selbständiger Handwerker mit seiner Werkstatt wegen neuer Produktionsverfahren Pleite geht. Er verfügt über relativ sicheres Einkommen, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung  – die eigentlich eine Versicherung gegen das Nicht-angestellt-Sein ist – kurz: er hat mehr gegen all die vielen Existenzängste und für die Sicherheit getan als irgendeiner der in Jahrtausenden verblichenen Vorfahren. 

Am Ende bleibt eigentlich nur eine – neue – Angst: aus dem Gestell herauszufallen.

Auf diese Angst – wie auf die meisten Bedürfnisse und Konflikte – reagieren Menschen nicht mit Verhaltensweisen, die sich von denen ihrer Urahnen grundsätzlich unterscheiden. Die emotionale Grundausstattung hat sich in Jahrhunderttausenden der Interaktion mit anderen Menschen und natürlicher Umwelt als erfolgreich erwiesen und – nach allem was ich darüber sagen kann – weitgehend erhalten. 

Wie Menschen ihre Gefühle und Impulse sprachlich und in Umgangsformen äußern, ist zwar sozial und kulturell modifiziert, die wesentlichen Ausdruckssignale aber, ihre Mienen, Gesten, Laute sind viel älter und in der Wechselwirkung von Hirn, Nerven und Körper viel tiefer eingewurzelt als die stark kulturabhängige Sprache. Die Untersuchungen von Hirnforschern belegen es eindrucksvoll. 

Nun mobilisieren Konflikte in der modernen Arbeitswelt nicht nur die rationale, sprachliche Reflexion sondern die gesamte psychische Ausstattung – und gehen mit den gleichen Ängsten und ihnen folgenden Strategien des Erlangens und Vermeidens einher, wie Konflikte in einer Sippe der Steinzeit. 

Mitten in all den Errungenschaften der Informationstechnologie laufen dieselben heftigen Gemütsbewegungen ab, wie in Tragödien des Sophokles oder Shakespeares. Nur die äußeren Bedingungen haben sich geändert: Das Gestell schränkt zeitweise Formen der Interaktion ein, es erlegt den Angestellten Zwänge – Rollenvorgaben – in ihrem Ausdrucksverhalten auf.

Eine junge Frau aus meinem Bekanntenkreis hat das seltene Talent, über sich selbst lachen zu können. Fällt ihr etwa in einer Gesellschaft ein Glas herunter, dann bricht sie nach einer Schrecksekunde spontan in schallendes Gelächter aus, während die Umstehenden noch pikiert auf Scherben und Weinflecke im Teppich starren. Die Unglückliche bekommt einen roten Kopf, entschuldigt sich und läuft, den Schaden zu beheben, wobei sie die Hand vor den Mund presst und ihr Körper unter aufwallender Heiterkeit zuckt. Im Freundeskreis und unter Unbeteiligten trägt ihr diese Reaktion auf eigenes Missgeschick Sympathien ein. Allerdings hat sie einen Haken: Sie bringt alle anderen um den – offenen oder heimlichen – Genuss der Schadenfreude. 

Wie reagieren Sie eigentlich, wenn Sie von der „Tücke des Objekts“ [Link:] heimgesucht werden, und wie reagiert Ihre Umgebung – Freunde, Familie, Kolleginnen und Kollegen? Nein, nicht von den großen Katastrophen soll die Rede sein, sondern von den bösen kleinen Misshelligkeiten, die immer dann passieren, wenn’s am wenigsten passt. 

Sie werden feststellen, dass akzeptierte und inakzeptable Formen des Ausdrucks – Gelächter oder schuldbewusste Verlegenheit, fahriges Murmeln von Entschuldigungen mit abgewandtem Gesicht zum Beispiel – von ziemlich genauen Rollenvorgaben abhängen. Diese Rollenvorgaben sind kein Zufall, und Verstöße werden geahndet: mit offen gezeigter Missbilligung, mit verdrehten Augen, mit Schadenfreude, Abwenden, Ausgrenzen. 

Das Virus der Wahrheit

Im Corona-Geschehen der 2020er Jahre gab es erbitterte Kämpfe ums Zuweisen sozialer Rollen; regierungsfromme Medien stempelten Kritiker von „Maßnahmen“ ab und lieferten sie der Verachtung von test-, masken- und impfwilligen Mitbürgern aus. „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ ist der wahrhaft sprechende Titel für das Buch darüber von Marcus Klöckner und Jens Wernicke. Es erschien 2023 im Rubikon Verlag, München. 

Nicht wenigen mutigen Opponenten zerstörten Rufmord und drakonische Strafen die Existenz. Das Vorgehen wurde trotz der erkennbar gewaltigen Schäden von Lockdowns, Einschränkungen im Gesundheitswesen, in Schulen, öffentlichen Einrichtungen, im Sport und in der Wirtschaft nicht aufgearbeitet. Die Verantwortlichen tun alles, damit es dabei bleibt, die Stempelkästen bleiben in Bereitschaft für die nächste Kommando-, Kontroll- und Unterdrückungsorgie.  

So wie der Günstling des Königs dessen Zorn muss der Angestellte fürchten, gegen die Maßgaben seiner Firma, gegen die ihm zugewiesenen Rolle in der Hierarchie – im Gestell – zu verstoßen. Das Schicksal eines einzelnen Unternehmens braucht ihm dabei nur so lange wichtig zu sein, als ihm seine Dienste dort hinreichend vergolten werden und nicht ein komfortablerer Platz in einem anderen Unternehmen, einer Behörde oder sonst einer Organisation winkt. 

Willkommen im „Wend“-Land

Der schnelle Zusammenbruch der DDR 1989 und die unaufhaltsame deutsche Vereinigung unter den „Wir sind ein Volk“-Rufen der Bevölkerung des hinfälligen „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ haben weniger mit nationaler Sehnsucht, umso mehr mit der Tatsache zu tun, dass die DDR ein fast perfektes Gestell war. 

Spätestens 1972 waren im Osten Deutschlands die Unternehmer als soziale Schicht eliminiert. Freiberufler waren fast bedeutungslos. Im „real existierenden Sozialismus“ (zu diesem Begriff wird später noch einiges zu sagen sein) gab es praktisch nur Angestellte. Deren Loyalität gegenüber dem Großkonzern DDR mit seinen vielen Tochterunternehmen – den Kombinaten der Industrie, Produktionsgenossenschaften in Handwerk und Landwirtschaft, den Heerscharen von Behördenangestellten – war durch nichts leichter und zugleich nachhaltiger zu erschüttern, als durch die Aussicht auf viel bessere Anstellungsverhältnisse in den Unternehmen und Organisationen des Westens. Deren marktwirtschaftlicher Erfolg erschien via Werbefernsehen und Intershop zum Greifen nah und zugleich unerreichbar fern. 

Tatsächlich trägt die deutsche Vereinigung Züge der „feindlichen Übernahme“  eines bankrotten Unternehmens durch einen starken Konkurrenten. Besonders deutlich wird das im jahrelangen, von Korruption, Schiebungen, Erpressungen begleiteten Agieren der „Treuhandanstalt“. Und nicht zuletzt die „Staatsdiener“ in Polizei, Armee und Verwaltung verhielten sich in der Mehrheit vollkommen anpassungsbereit gegenüber einer Gesellschaft, die ihrer alten Unternehmensführung als schlimmster Feind galt, als „Klassenfeind“ – in der quasi religiösen Ideologie der totalitären Parteien also als der Teufel. 

Das schmälerte selbst bei hohen Offizieren, die bis zum Herbst 1989 glaubwürdig ihre Entschlossenheit zum Atomschlag gegen diesen Klassenfeind bekundet hatten, nicht die selbstgewisse Bereitschaft, sich bei Militär, Polizei oder Geheimdienst der fusionierten Deutschland AG – eben des Teufels – anstellen zu lassen. 

Solchen Figuren – stramm linientreu, bereit, Nachbarn und Kollegen anzuschwärzen, auszubooten, bei Partei und Stasi zu denunzieren, wenn es der eigenen Karriere nützte, und nach der politischen „Wende“ servil gegenüber der ehemaligen „Konkurrenz“ – verlieh man den Namen „Wendehals“, was ungerecht gegenüber dem netten Vogel ist.

Machtspiele: Dabei sein ist alles

Interessanterweise hat den Begriff „Wende“ der vorletzte Chef der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, erfunden. Er war einer der Apparatschiks, die im Mai ihren Genossen von der Kommunistischen Partei Chinas applaudiert hatten, als sie auf dem Tian’anmen für Demokratie demonstrierende Studenten vom Militär massakrieren ließen. Fast die gesamte Politbürokratie der DDR überstand den Machtverlust, schaffte es, das – zu großen Teilen unrechtmäßig erworbene – Parteivermögen verschwinden zu lassen, und schwang nach mehrfachem Wechsel des Namens als „Die Linke“ wieder das Banner eines „demokratischen Sozialismus“, es wurde 2024 vom „Bündnis Sahra Wagenknecht“ als „kreativer Sozialismus“ übernommen. 

Linke, Grüne, Rote, zu Blockfreunden konvertierte CDU/CSUler und biegsame „Liberale“, gefolgt von staatsfrommen Medien und immer mehr vom Staat aus Steuern finanzierten Organisationen – verfolgen offensichtlich inzwischen das von Lenin propagierte Ziel: „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen.“ Seit der Ära Merkel arbeiten fast alle politischen und ökonomischen Gestelle an der Renaissance sozialistischer Verhältnisse nach chinesischem Vorbild. „Corona“ war das zugehörige Planspiel.

Niemand kann aus seiner Haut

Das wäre vielleicht der Punkt, über eine spezifische Moral des Angestellten zu sprechen. Aber dabei ergibt sich ein kompliziertes Gemenge: Nationalität, Ideologie, soziale Schichtungen und kulturelle Prägungen des 19. Jahrhunderts spielen gerade bei dem in Deutschland übermächtigen Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und Konformität ebenso mit, wie bei der Bereitschaft zur Illoyalität. Dennoch erscheint die Erfahrung des Angestellt-Seins die Oberhand zu gewinnen. Liest man nach fast 70 Jahren Margret Boverys Buch „Der Verrat im 20. Jahrhundert bleiben wenig Zweifel.

Jeder Teil des Gestells wird nur auf den jeweils günstigsten Angestellten, das heißt eine quantifizierbare Leistung zurückgreifen und wechselt ihn gegebenenfalls gnadenlos – also ohne „Moral“ – aus. Das ist ein quantitativ faires Verhältnis. Die Qualitäten des einzelnen, über seine schiere Funktion im Gestell, seinen Arbeits-Marktwert, gar übers der Stellung angepasste Agieren hinaus, sind zweitrangig, manchmal sogar störend. Sie werden folglich für den Angestellten selbst ent-wertet – dadurch fühlt er sich ungerecht be-wertet. Das fördert auf beiden Seiten weder den Respekt noch Lernbereitschaft und Fortentwicklung. 

Sie kennen vielleicht den hübschen Spruch: „In jeder Organisation gibt es eine Person, die kompetent ist und Bescheid weiß. Es kommt darauf an, diese Person zu finden und unverzüglich zu entlassen, damit die Organisation funktioniert“.

Viele Menschen, die aus dem Gestell herausfallen, leiden psychisch. Sie verlieren Selbstvertrauen und empfinden sich als „wertlos“. Dieses Gefühl wird von den Kulturverwesern des Gestells – den an-Gestell-ten Partei-, Gewehrschafts- und Medienfunktionären – gepflegt und gehätschelt. Selbständig denkende und handelnd ihr Leben gestaltende Menschen brauchen nämlich weder formales Mitleid noch bevormundende Fürsorge. Aber innerhalb des Gestells werden ihnen kaum andere als die bezahlten Leistungen abverlangt, nur ausnahmsweise lernen sie, ihre Qualitäten selbst zu erweitern und zu vermarkten. „Freigesetzt“ klingt ihnen wie „ausgesetzt“.

Für den Angestellten zählt nur eines: seine Stellung im Gestell sicherzustellen. Früher erklärte er im Brustton der Überzeugung seiner kochenden und Kinder erziehenden Frau: „Was leistest du denn schon. Ich sorge schließlich für die Existenz.” 

Umgekehrt bekommt der um seine Existenz kämpfende Freiberufler heute womöglich vergleichbare Ansagen von seiner Frau. 

Handelt es sich wirklich um einen emanzipatorischen Akt, wenn an-gestellte Frauen dieses Rollenverhalten übernehmen? Zweifelsfrei muss „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gelten, aber lässt sich der Verzicht aufs sperrige, stolze Leben im je weiblichen oder männlichen Körper mit seinen wundersamen Eigenheiten, lässt sich die Preisgabe qualitativer Unterschiede zwischen Mann und Frau zugunsten gestellkonformer Karrieren auf quantitative Geschäftsregeln herunterrechnen? 

Wie sähe eine Gesellschaft aus, die es sich zum verbindlichen Ziel machte, alle Spannungen und Konflikte zwischen Geschlechtern und sexuellen Orientierungen durch Quoten einzuebnen? Es scheint, dass viele Industrieländer dorthin unterwegs sind, wobei sich neue, bisweilen bizarre Kulturkämpfe entwickeln.

Für mich war es eine ziemlich irritierende Erfahrung, als eine Kollegin wegen „nicht gendergerechter Texte“ angegriffen wurde – und zwar anonym, aus sicherer korporativ bewaffneter Deckung. Die „Gleichstellungsbeauftragte“ informierte den Vorgesetzten über angebliche Verstöße gegen gendergerechte Schreibweisen, auf die sie von einer nicht genannten Mitarbeiterin hingewiesen worden sei. Diese Mitarbeiterin hätte einfach zum Telefon greifen und mit der Kollegin reden können. Sie zog eine Denunziation vor – so zumindest wertete ich mit meiner Stasi-Erfahrung den Vorgang. Für mich war er ein Hinweis auf Verhaltensweisen – in diesem Fall die Denunziation –, die in gestellhaften Organisationen mit einer Kultur starrer Regeln nicht zu vermeiden sind.

Indessen sind nicht einmal Strukturen des Gestells einheitlich. Es kann sich um strenge Hierarchien mit Unterordnungsverhältnissen von militärischem Zuschnitt handeln: Arbeit wird nach Befehl und Gehorsam organisiert – so wie heute noch in vielen Fabriken in China und anderen autoritären Staaten. Im Betrieb eines patriarchalisch regierenden schwäbischen Mittelständlers können sich Angestellte wohl fühlen, weil der Chef seine Mitarbeiter in familiärer Art fordert und fördert, auch wenn er von demokratischer Mitsprache wenig hält, ihnen aber zuhört, weil er selbständiges Denken schätzt. 

Gleichwohl haben die Gestelle eines gemeinsam: Der Angestellte muss individuelles Verhalten, muss seine Interaktionen, sein Auftreten auf die Verhältnisse seiner Arbeitsumgebung einrichten. Das Gestell hält charakteristische Rollenangebote bereit – der Angestellte wird sich bemühen, die bestbezahlte zu ergattern und er wird fortan einen großen Teil seiner Energie darauf verwenden, nicht als Fehlbesetzung dazustehen.

Rollenspiele

Rollenverteilung im Theater und Rollenverteilung im Gestell können manchmal Biographien von erhellender Logik  hervorbringen: 

Ein Schauspieler wurde über viele Jahre am Theater und beim Fernsehen regelmäßig in Nebenrollen besetzt, die seiner beamtenhaften Ausstrahlung entsprachen. Er war keineswegs erfolglos, er wurde an namhaften staatlichen Bühnen beschäftigt, aber er war unzufrieden. Seine Laufbahn hatte an den großen Rollen vorbeigeführt: kein Hamlet, kein Faust, kein Mephisto oder König Lear kam in  greifbare Nähe. Nicht einmal die lausigste Provinzbühne in Sachsen-Anhalt hätte ihm einen König anvertraut – außer vielleicht den etwas trotteligen im Weihnachtsmärchen. Kurzum: seine Karriere entfaltete sich vor allem in der Kantine, wo er seine besten Witze ebenso wie seine traurige Stimmung und Teile seines Einkommens im Kollegenkreis ausbreitete.

Das missfiel seiner Ehefrau – in der Ehe war er offensichtlich auch nicht der König –, und als Anfang der achtziger Jahre neue private Fernsehsender wie Pilze aus dem Boden schossen, drängte sie ihn, sich um eine Anstellung als Kulturredakteur zu bemühen. 

In den Gründerjahren des Privatfernsehens agierten Geschäftsleute, Akquisiteure für Werbung, Glücksritter und Boulevardjournalisten. Sie konnten sich glücklich schätzen, jemanden mit einiger Vorbildung in Kunst und Kulturgeschichte zu finden, denn damals mussten sie noch in den klassischen Sparten, also auch im Feuilleton, mit den öffentlich-rechtlichen Programmen konkurrieren. 

Der Schauspieler reüssierte, weil er die Idealbesetzung für die freie Rolle war: Er kannte sich im Kulturressort aus und hatte Sinn für Qualität, ohne selbst alles besser wissen zu müssen. Er war kein Star mit Allüren, sondern ein erfahrener Mann fürs Nebenfach. Er hatte vollmundige Angeber als Regisseure scheitern sehen und verstand sich auf die Nöte freier Mitarbeiter. Kurz: als Leiter einer Kulturredaktion konnte er Talente fordern und fördern und mit den unzulänglichen Mitteln des Neubeginns Sendungen zustande bringen, die den teuren Magazinen großer Fernsehanstalten in nichts nachstanden. Die Arbeitsatmosphäre in seiner Redaktion war aufgeschlossen; unterschiedliche Begabungen entfalteten sich, und der Mann war als Abteilungsleiter angesehen.

Natürlich gab es – wie überall im Gestell – Neider. Natürlich waren das die nächsten Mitarbeiter. Denn niemand glaubt fester an die eigene menschliche und fachliche Überlegenheit gegenüber dem Vorgesetzten, als die ihm unmittelbar Untergebenen. 

Die Katastrophe begann, als ihm ein hoher Posten in der Administration angeboten wurde und er ihn akzeptierte. Er hatte nicht den Mut, darüber rechtzeitig mit seinen Mitarbeitern zu reden und insbesondere die Frage seiner Nachfolge zu klären. Fast alle fühlten sich dadurch übergangen und hofften zugleich, Anwärter auf die Redaktionsleitung zu sein. Der Aufsteiger aber befürwortete aus der höheren Ebene des Gestells einen externen Bewerber als neuen Ressortchef. 

Dafür wurde er gehasst. Solchen Gefühlen begegnen Funktionäre der oberen Etagen üblicherweise mit Gelassenheit oder Zynismus; ernsthafte Gefahr erwächst ihnen nur auf gleichem oder höherem Niveau. Unser Mann aber hatte Pech. Die neue Funktion verlangte betriebswirtschaftliche und juristische Fähigkeiten, schnelle Veränderungen in der Medienbranche ließen ihm keine Zeit, sich dafür zu qualifizieren. Er scheiterte, und die Geschäftsführung schickte ihn in einem Anfall falsch verstandener Loyalität auf seinen alten Arbeitsplatz zurück. 

Es gehört wenig Phantasie dazu, sich Schadenfreude und Rachegelüste der neuen alten Subalternen auszumalen. Viel interessanter ist, dass die redaktionelle Arbeit von diesen Vorgängen natürlich nicht profitierte, und dass in der Folge unser Mann in eine andere Rolle geriet: zwischen die Mühlsteine. Der Direktion gegenüber musste er loyal sein, er durfte sich nicht noch einmal als Fehlbesetzung erweisen, denn das Scheitern in der neuen Position hatte sein Image grundsätzlich beschädigt. Die Mitarbeiter, die er mit seinem Plädoyer für einen externen Nachfolger vor den Kopf gestoßen hatte, musste er auf Abstand halten und feindliche – also praktisch alle – Allianzen verhindern. 

Damit war eine gedeihliche Zusammenarbeit nicht mehr möglich; seine neue Rolle war, die Politik der Geschäftsführung nach unten „durchzustellen“. Aus dem Abteilungsleiter wurde ein mutloser Nebendarsteller, der dafür bemitleidet werden wollte, dass er auch noch die dümmsten Anweisungen ohne Rücksicht auf die Qualität der Sendungen und die Interessen seiner Kollegen erfüllte. 

Die Mitarbeiter praktizierten passende destruktive Gegenrollen. Die mit eigenem Gestaltungswillen verließen die Redaktion oder richteten sich in Nischen ein. Das Ende der Geschichte war, dass die Sendungen sich auf konfuse und gesichtslose Art dem anpassten, was überall gesendet wird und womit sich die Geschäftsleitung konfliktfrei arrangieren konnte. Niemandem wäre aufgefallen, hätte man das Kulturmagazin dieses Senders durch irgendein anderes Kulturmagazin ersetzt: Der Kampf um die Positionen im Gestell war – ebenso wie der um Quoten – wichtiger als der um die Qualität, um das unverwechselbare Gesicht der Sendung.

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