Thomas Morus

Für zwei Kategorien von Menschen ist es überaus einfach, kompromißlos „sie selbst“ zu sein: für jene, die ganz unten sind – sie haben nichts zu verlieren –, und jene, die ganz oben sind – sie haben nichts zu gewinnen. Für die aber, die sich dazwischen befinden, bedeutet Leben das beständige Suchen nach einem realistischen Ausgleich zwischen Ideal und Wirklichkeit. 

Dies gilt auch für Politiker, die entgegen einem landläufigen Vorurteil nicht alle immer vollständig korrupt sind, und so wollen wir uns in diesem Text einmal des hl. Thomas Morus annehmen, Schutzpatron der Staatsmänner.

Aufstieg

Thomas Morus, Lordkanzler unter Heinrich VIII., hatte sich bekanntlicherweise geweigert, den von seinem Herrn geforderten Eid auf die königliche Oberherrschaft über die Kirche abzulegen und wurde daher 1535 wegen Hochverrats hingerichtet. Was war geschehen? 

Thomas Morus („Morus“ ist die latinisierte Variante seines eigentlichen Namens, „More“), geboren 1478, war der Sohn des Juristen John More, studierte in Oxford Logik, Latein und Griechisch und absolvierte in London am Lincoln’s Inn eine juristische Ausbildung, die er 1501 abschloß. Der erfolgreiche junge Rechtsanwalt trat 1504 in das Parlament ein, fühlte sich aber immer wieder vom monastischen Leben angezogen und lebte eine Zeitlang sogar als Postulant bei den Londoner Kartäusern und wurde später auch Oblate der Benediktinerabtei vom hl. Augustinus in Canterbury, entschied sich aber letztlich für die „vita activa“ eines Familienvaters, Rechtsanwalts und Staatsdieners. 

Nachdem Morus erstmals breites Aufsehen erlangt hatte, als er sich den Steuerprojekten des notorisch geizigen Heinrichs VII. widersetzt hatte, des Begründers der Tudor-Dynastie, amtierte er von 1510 bis 1518 höchst erfolgreich als „Undersheriff“ von London und wurde vom neuen König, dem berühmt-berüchtigten Heinrich VIII., der gerade zu Beginn seiner Regierung aufgrund seiner hohen Bildung und Intelligenz zu großen Hoffnungen Anlaß gab, mit mehreren diplomatischen Missionen betraut. 

1516 erschien dann auch Morus‘ berühmte Schrift „Utopia“, in der er in Anlehnung an die Staatsschriften der Antike einen Idealstaat entwarf, dessen griechischer Name, wörtlich „Nichtort“, bis heute zur Genrebezeichnung werden sollte. Augenscheinlich an Platons Beschreibung der Insel „Atlantis“ aus dem Timaios angelehnt, entzieht sich die Schrift bis heute einer letztgültigen Interpretation, denn die beschriebene Verfassung, die man teils als kommunistisch, teils als monastisch verstehen kann, ist derjenigen des zeitgenössischen Englands so sehr entgegengesetzt, daß man hier sowohl einen idealen Gegenentwurf als auch eine Parodie sehen kann: Schon immer waren Ambiguität und Satire der beste Weg, sich dem Zorn der Mächtigen zu entziehen; auch für unsere Tage eine wichtige Lehre.

1517 trat Morus ganz in den Dienst des Monarchen und erlebte einen rasanten Aufstieg: Mitglied des „Privy Council“, dann Vermittler bei den Mai-Unruhen in London, wurde Morus 1523 in Irland zum „Knight Bachelor“ geschlagen und schließlich zum Parlamentssprecher ernannt. 

Scheidung

England wurde damals wie ganz Europa von den ersten Umwälzungen der Reformation erschüttert, und Morus, nicht nur treuer Diener des Königs, sondern auch und vor allem der Kirche, bemühte sich (mit teils brachialen Mitteln) um eine mögliche Eindämmung der Reformationen, in der er nicht zu Unrecht den Beginn des Zerfalls der holistischen mittelalterlichen Weltordnung witterte. So schrieb er auch eine eigene Arbeit gegen Luther und unterstützte den jungen Heinrich VIII. bei seiner eigenen Schrift zu diesem Thema, welche dem Papst so sehr gefallen sollte, daß sie dem König den Titel eines „Defensor fidei“ eintragen sollte – eine bis heute vom englischen Monarchen getragene Auszeichnung, wie ein Blick auf die Abkürzung „F.D.“ auf jedem britischen Geldstück unschwer beweist.

Doch zurück zu Thomas Morus. Die von ihm verkörperte ideale Verbindung zwischen Effizienz, humanistischer Bildung, Königstreue, Rechtskunde, Papstnähe und Lutherfeindlichkeit war mithin wohl auch ein Grund, wieso Heinrich VIII. ihn 1529 zum Lordkanzler ernannte, als der vorige Inhaber dieses Amts, Kardinal Wolsey, Erzbischof von York, zurücktreten mußte, da er es nicht vermocht hatte, beim Papst die Annullierung der Ehe des Königs mit Katharina von Aragón zu erwirken. Deren Kinderlosigkeit hatte den noch jungen König in Anbetracht ihres zunehmenden Alters in ernste Bedrängnis gebracht, denn das Fehlen eines männlichen Erbes bedrohte die Stabilität der noch recht neuen Tudor-Dynastie und drohte, die Schrecken der kürzlich erst verebbten Rosenkriege wiederaufleben und das Land in den Abgrund stürzen zu lassen. Nur eine formalrechtlich ausschließlich der Kirche zustehende Annullierung der Ehe schien eine Chance für eine Neuverheiratung und die Zeugung des ersehnten männlichen Thronfolgers zu bergen, doch der Papst, der ansonsten eine solche Forderung wohl routinemäßig bestätigt hätte, befand sich in der Zwickmühle, stand er doch nach dem „Sacco di Roma“ 1527 in der Gewalt Kaisers Karls V. – des Neffen Katharinas, der eine Verstoßung der alternden spanischen Verwandten nur ungern sah.

Die Weigerung

Auch Morus war bei seiner Mission daher kein Erfolg beschieden, zumal er in den Verhandlungen mit Rom recht schnell durchblicken ließ, daß ihm die Autorität des Papstes Clemens VII. in diesen Fragen entscheidender als der Wunsch des Königs sein würde. Als sich auf dem Kontinent abzeichnete, daß die Reformation kein Strohfeuer war, sondern vielmehr das gesamte Abendland unwiderruflich revolutionieren und gleichzeitig vielen Prinzen die Möglichkeit geben würde, zum Schutz des Protestantismus anstelle des Papstes selbst die Aufsicht über ihre Landeskirchen zu unternehmen, vollzog Heinrich VIII. im Jahre 1531 schließlich seine berüchtigte Kehrtwende, indem er sich selbst zum Oberhaupt der englischen Kirche erklärte, vom gesamten Klerus einen Suprematseid einforderte und sich selbst die Annullierung seiner Ehe bestätigte. 

Morus trat daher am 16. Mai 1532 aus Protest gegen diesen Verrat an Rom von seinem Amt als Lordkanzler zurück. Vorläufig wagte der König es noch nicht, seine ehemalige rechte Hand zu belangen, doch mit der zunehmenden Verschärfung der Loslösung der neugeborenen anglikanischen Kirche von Rom wurde auch der Konflikt zwischen dem König und seinem ehemaligen Lordkanzler immer deutlicher. 

Als das Parlament 1534 schließlich nicht nur einen „Act of Supremacy“, sondern auch einen „Act of Succession“ verabschiedete, welcher Heinrichs VIII. kanonisch widerrechtliche Ehe mit Anne Boleyn sowie alle hieraus hervorgehenden Nachkommen anerkannte, und schließlich auch der systematische Raub der Kirchengüter durch die Krone sowie die Auflösung der Klöster begann, wurden alle Staatsdiener und potenziellen Oppositionellen verpflichtet, einen Eid auf diese Bestimmungen abzulegen. 

Morus weigerte sich, wurde daraufhin wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und im Tower eingesperrt, wo er noch letzte geistliche Arbeiten und seine eigene Grabinschrift verfaßte. 

Die Hinrichtung erfolgte am 6. Juli 1535 auf dem Schafott von Tower Hill durch Enthauptung, die eigentlich vorgesehene Folter mitsamt Hängen, Ausweiden und Vierteilen blieb ihm erspart. Der Kopf des ehemaligen Lordkanzlers wurde dann einen Monat lang auf der London Bridge zur Warnung möglicher Dissidenten zur Schau gestellt und erst 1558 in der Familiengruft beigesetzt.

Umbruchzeiten

Es ist kein Zufall, daß der Papst Pius XI. Thomas Morus gerade 1935, als überall in Europa totalitäre Ideologien als Religionsersatz hervortraten und absoluten Gehorsam gegenüber den verschiedensten charismatischen „Führern“ einforderten, zum Heiligen und Märtyrer der römisch-katholischen Kirche erhob (und 1980 auch die anglikanische Kirche gewissermaßen reumütig diesem Beispiel folgte). 

Gerade heute, wo wir überall im Westen ein neues Erstarken solcher säkulärer Heilslehren erleben, sollte uns Thomas Morus in der Tat ein Vorbild sein. Er, der während seiner Kanzlerschaft im Auftrag des Königs schärfste Maßnahmen gegen jene Protestanten durchgesetzt hatte, die nach der Rückkehr zum Katholizismus erneut zum „Luthertum“ übergetreten waren, wurde in dem Augenblick, wo er sich in einer ähnlichen Situation befand, nicht wankelmütig, sondern stand zu seinen Idealen, wohlwissend, daß er sich durch seine Weigerung, sich dem zunehmenden Totalitarismus des Königs zu unterwerfen, ein grausames Todesurteil einhandeln würde.

Der historisch ungebildete moderne Leser, zudem daran gewöhnt, daß Religion angeblich „Privatsache“ sei, wird die hiermit verbundenen Fragestellungen wohl auf den ersten Blick unverständlich, ja abstrus finden: Revolutionen nur wegen einer Ehescheidung in Gang setzen; Menschen wegen ihres Glaubens hinrichten; lieber der „Kirche“ als dem Staat gehorchen? 

Und in der Tat: Wer keinen Zugang zur Transzendenz in sich besitzt und zudem die gegenwärtige „soziale“ Schwundstufe eines zunehmend entkernten Christentums als Maßstab seiner historischen Betrachtungen ablegt, wird die geistigen und geistlichen Perspektive gerade des 16. Jhs. nie wirklich verstehen können. Denn das Ringen um die religiöse Einheit des Abendlands, der Kampf für die Verbindlichkeit der Tradition gegenüber der potenziellen Beliebigkeit individualistischer Präferenzen, die Sorge um das eigene Seelenheil – all das waren Grundfragen des europäischen kulturellen Empfindens und trieben nicht nur die vielbeschworenen „Eliten“, sondern gerade auch die einfachen Menschen um, die angesichts der multiplen Umbrüche des 16. Jhs., wo nicht nur die Einheit der Kirche zusammenbrach, sondern auch das Heilige Römische Reich seine gesamteuropäische Autorität verlor, Konstantinopel eingenommen worden war und die Entdeckung Amerikas das bisherige Weltbild auf den Kopf stellte, darum rangen, in einer aus den Fugen geratenen Welt weiter Sinn zu finden.

Wider den übergriffigen Herrscher

Thomas Morus entschied sich hierbei gegen den herrscherlichen Eigenweg in letzter Instanz lieber für die Tradition: Seinem Herrn diente er zwar bis ans Ende widerstandslos, aber nicht so weit, daß er die Grundelemente seines Glaubens dafür geopfert hätte. Denn die jahrhundertealte Tradition der römischen Kirche, des kanonischen Rechts, der Lehre der Kirchenväter und der Legitimität apostolischer Sukzession konnte und wollte er nicht für die rein säkularen Interessen eines bedrängten und sprunghaften Monarchen opfern, der wie so viele andere Prinzen seiner Zeit aus seiner politischen Zwangslage die Motivation zog, sich eine spirituelle Autorität anzumaßen, die ihm schlecht zu Gesichte stand und die nur in einem Desaster enden konnte. 

Und in der Tat: Der geistliche Hochverrat des Begründers der anglikanischen Kirche an Rom, als dessen „Verteidiger“ er noch kurz zuvor aufgetreten war, die widerrechtliche Usurpation aller Kirchengüter, die in Jahrhunderten frommer Stiftungen entstanden waren, die Auflösung der Klöster aufgrund ihrer angeblichen „Unproduktivität“ mitsamt Einziehung und Verkauf ihrer Besitztümer, die physische Zerstörung hunderter Kirchen und Abteien, die Verfolgung und Ausgrenzung von Katholiken (die bis heute von den höchsten Staatsämtern ausgeschlossen sind) – all das sollte Thomas Morus‘ Befürchtungen völlig bestätigen und sich letzten Endes dann auch gegen die Autorität des spirituell entkernten Königtums selbst richten, dessen Monarch nur wenige Jahrzehnte später selber auf das Schafott geraten und von der ersten totalitären Diktatur Europas verdrängt werden sollte …

Auch wir sehen heute eine seit langem nicht mehr dagewesene Selbstermächtigung einer politischen Elite, die nicht nur die Funktion einer höchsten moralischen Instanz usurpiert, sondern gleichzeitig für sich auch in Anspruch nimmt, nichts weniger als die „Welt“ (also das Klima) zu retten und den Menschen dank zunehmend transhumanistischer Gesetzgebung von seinen naturrechtlichen Fesseln zu befreien – eine hochgefährliche, sehr abschüssige Bahn, die früher oder später ähnlichen Schaden anrichten könnte wie analoge Ambitionen in der Vergangenheit. 

Nun liegt es an uns, zwar unseren Nationalstaaten und unserer Zivilisation treu zu bleiben und nach bestem Wissen und Gewissen unsere Pflicht zu tun, uns aber wie Thomas Morus immer dann gegen alle Autoritäten zu stellen, und seien sie auch institutionell noch so korrekt legitimiert, wenn diese die Grenzen ihrer Befugnisse überschreiten und ihre Macht zu Zwecken mißbrauchen, die kein Staat sich anmaßen darf, ohne die Gehorsamspflicht seiner Bürger zu verwirken …

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